Im Rahmen einer lebendigen Kooperation mit Partnern im Bereich Bildung & Wissen veröffentlichen wir die Scholé Nachrichten von Alexandra Terzic-Auer.
Heute muss ich als erstes von einem erfreulichen Ereignis berichten: Letzten Samstag hat im Filmmuseum der Albertina die Uraufführung eines 35-minütigen Dokumentarfilms über das Projekt MEHRSTERN stattgefunden, im Auftrag des Sponsors gedreht von meinem Sohn Adrian und seinem Freund Ruben Braunschmid. Da aus Mehrstern kurze Zeit später SCHOLÉ hervorgegangen ist, möchte ich euch darüber erzählen:
Die typischen „Störungen“ vieler Kinder – Zappeligkeit / „ADHS“, asoziales Benehmen, Depressionen etc., die normalerweise mit Ritalin oder anderen Therapien zur Anpassung der Kinder an das System „behandelt“ werden, beruhen meiner Überzeugung nach einfach darauf, dass die Bedürfnisse dieser Kinder nicht erfüllt werden: Ein kleines privates Forschungsprojekt sollte also die Frage beantworten, ob es nicht auch anders geht?
Wie es zu dem Forschungsprojekt MEHRSTERN gekommen ist:
Aus eigener Erfahrung wusste ich nur zu gut, dass viele Lehrer, aber auch Schulpsychologen, Mitschüler oder deren Eltern manchmal seltsam allergisch auf Kinder reagieren, die intellektuell „über der Norm liegen”. In der Lehrerausbildung erfährt man bis heute nichts oder fast nichts über den Umgang mit so genannten Hochbegabten. (Schon der lästige Begriff “hoch begabt” ist ja nur eine Ausgeburt des schulischen Normierungssystems und macht außerhalb davon gar keinen Sinn, da jedes Kind eben auf seine einzigartige Weise begabt ist!)Auf der Suche nach Rat und Hilfe bin ich 1997 an Brigitte Kraft verwiesen worden, eine gelernte Krankenschwester, die 10 Jahre auf einer Kinderpsychiatrie gearbeitet hatte und dort eine seltene Virtuosität im Umgang mit den besonderen Bedürfnissen von Kindern erwarb. Diese Fähigkeit sollte später nicht nur ihren eigenen genialen Söhnen zugute kommen! Mit größter Selbstverständlichkeit hat sie sich unserer angenommen, wie vieler anderer verzweifelter Eltern und Kinder vorher und nachher. Das war der Beginn meiner Freundschaft mit Brigitte, deren umfassende Bildung und Herzensbildung mich bis heute immer wieder erstaunen und tief berühren. Als unsere Kinder erwachsen waren, suchte ich deshalb nach einem neuen würdigen Betätigungsfeld für ihre so besonderen Talente – und fand über meine Freundin Sibylle Eisenburger schließlich in Dr. Fogarassy einen privaten Sponsor, der sie ohne bürokratische Einschränkungen unterstützt.
Seit 2012 organisiert Brigitte ganz allein die freitäglichen Mehrstern-Ausflüge zu verschiedensten Destinationen. Zur Teilnahme eingeladen werden 12 intellektuell unterforderte Schulkinder zwischen 6 und 14 Jahren, die meisten vermittelt vom Institut für Begabungsförderung im SSR, die Mehrstern-Gruppe. Wieviel Wissen, Einsatz und Arbeit dahinter stecken, können professionelle Pädagogen vielleicht am ehesten ermessen: Schon Monate vorher sondiert Brigitte die besonderen Interessen der Kinder, kontaktiert entsprechende Stellen in Gärten, Museen, Betrieben usw., vereinbart Besuchserlaubnisse, Führungen oder Übungsprogramme für die Kinder, informiert Sponsor und Eltern und bereitet ihre „Sternchen” thematisch auf den bevorstehenden Besuch vor.
Bei den wöchentlichen MEHRSTERN-Exkursionen übernimmt sie nicht nur die alleinige Verantwortung für das leibliche und seelische Wohl ihrer Schützlinge, sie kann auch noch fast alle fachlichen Fragen der Kinder mühelos beantworten und lässt es sich nicht nehmen, jedem Kind immer seine spezielle Lieblingsjause mitzubringen. Zwischen den Treffen bekommt jedes einzelne Sternchen allwöchentlich eine liebevolle persönliche Rückmeldung vom Briefträger (!) überbracht und auch den Wissensvermittlern vergisst Brigitte niemals schriftlich oder telefonisch zu danken…
Wenn ich Zeit habe, darf ich als Zaungast mit dabei sein. Und meine anfängliche Vermutung hat sich vollauf bestätigt: Der eine Nachmittag pro Woche, an dem sich die Sternchen endlich einmal vorbehaltlos gesehen und angenommen fühlen, wie sie sind, an dem sie gleichGESINNTE anstatt gleichALTRIGE Kinder um sich haben und mitbestimmen dürfen, was unternommen wird, hat schon so manches „Wunder” bewirkt. Eine entscheidende Rolle spielen dabei natürlich die ELTERN, ohne deren aktive Teilnahme und Zustimmung das nicht möglich wäre. Die meisten „Störungen“ haben sich jedenfalls rasch gebessert und aus Außenseitern wurden bald lebensfrohe Kinder!
Diese Erfahrung hat mich dann bewogen, mir auszumalen, wie gut es Kindern erst gehen müsste, wenn sie nicht nur an Freitag Nachmittagen, sondern täglich in ihren Bedürfnissen und Begabungen so ernst genommen würden! Wenn sie angstfrei ihre eigenen Fragen stellen könnten und sich geistig und körperlich nach Herzenslust frei bewegen dürften…! Vor meinem inneren Auge ist eine Vision aufgetaucht, die ich schon kannte, als junge Frau aber offensichtlich hoch nicht in ihrer ganzen Tiefe erfassen konnte. Sie steht schwarz auf weiß in dem Buch DIE ANTWORT DER ENGEL, das eine meiner Wahl-Großmütter mir 1983 geschenkt hat. Ich halte es für eines der Großen Bücher des 20. Jahrhunderts. Es markiert den Beginn eines grundlegenden Bewusstseinswandels, für den vier von den Nazis verfolgte junge Suchende, drei Frauen und ein Mann, inmitten der Schrecken des 2. Weltkriegs Zeugnis ablegten.
Eine der vier, Lili, die als Bewegungstherapeutin oft mit Kindern arbeitet, fragt am 21. Januar 1944 ihren Engel: „Warum will der Mensch alles fertig erhalten?“ Und sie vernimmt die Antwort:
Verdorbene Kindheit: fertiges Spielzeug – fertiges Wissen – fertige Speise – fertige Erfahrung.
Das bekommt das Kind, und es fühlt Ekel.
Der Wissensdurst und die Schaffenslust – alles, was zum Menschen formt, verkümmert.
Die Lust an Versuchen? Die vielen guten Ratschläge töten sie. Das ist Feigheit und Ungläubigkeit.
WENN DAS KIND ERWACHSEN WIRD, IST ALLES IN IHM SCHON ERSTORBEN.
Lerne daraus, meine Geliebte! Berate nie, ergänze nie, kaue nie die Nahrung vor!
DU gib anders – und alles wird sich unter Deiner Hand erneuern!
Stelle Aufgaben, stelle Proben! Locke, verführe, in deine Fußstapfen zu treten!
Aber führe nicht! Halte nicht die Hand!
Stoße den Unsicheren gelinde an und seine Sicherheit wird erstarken.
Das ist es, was du suchst – du wirst es finden.
Nach verschlafenem Grau kommt wunderbares Strahlen.
Aber jetzt? Durch die vielen farbigen Bilder, farbigen Filme wird des Menschen Auge grau.
Statt Farbe zu GEBEN, erhält er sie.
Lili: „Es ist so schwer, das Interesse der Menschen zu wecken…“
Würde ich mich dir nähern, so bliebest du stehen. Ich weiche aber zurück.
Du bemerkst es nicht und lernst, auf der Luft zu schreiten. Nicht auf dem Wasser – auf dem Nichts.
Ich gebe immer nur die eine Hälfte der Antwort – die andere Hälfte bleibt aus. Fühlst du es?
(mit bitterem Tonfall:) Aber die Menschen meinen – „Wir sind so gut zu unseren Kindern, zu jedermann“ und alles verkümmert,
weil – „wir gut sind“.DU gib Hunger, nicht Sattheit! – „Alles ist uns bekannt – wir wissen alles“. DU öffne das Unbekannte!
Lili: „Warum können so wenige Menschen sich konzentrieren?“
Weil sie auf nichts achten! So viel Lärm, so viel Farbe dringt in den Menschen ein!
DU aber zeige etwas Neues, das stärker ist als der stärkste Ton und dennoch leiser. Darauf werden sie horchen.
(Lange, tiefe Stille) Jetzt horchte ich… und der Klang war gut. Ihr hört ihn auch, wenn ihr horcht.
Davon hängt alles ab. Das ist das Maß, das ist die Freude, das ist alles.
Horcht immer! … HORCHST DU, SO WERDEN SELBST DIE STEINE SPRECHEN.
Zitat aus: “DIE ANTWORT DER ENGEL”, ein Dokument aus Ungarn, aufgezeichnet von Gitta Mallasz, Daimon Verlag, Zürich
Was könnten wir euch Schöneres wünschen in der Vorweihnachtszeit? herzlichst, Alexandra und Sibylle