Schon in den 1930er Jahren hat ein amerikanischer Pädagoge etwas gewagt
wozu den meisten heutigen Bildungsexperten leider der Mut fehlt. Louis Paul Benezet hat sich in die Situation der Kinder eingefühlt und darüber nachgedacht, was aus ihnen werden soll: eigenständig denkende Erwachsene oder Menschen, die für jede Lebenssituation genau vorgegebene Regeln brauchen, weil ihr Denken nicht ge-schult sondern ver-schult wurde.
Statt sich mit Rechenregeln herumzuschlagen, dachte er, sollten Kinder erst einmal lernen, sich sprachlich präzise auszudrücken und anhand konkreter Aufgaben ihre angeborenen logischen Fähigkeiten entwickeln. Dazu würde es genügen, ihnen jede Menge Geschichten vorzulesen, Themen mit ihnen zu behandeln, die sie interessieren, sie von ihren eigenen Erfahrungen und Erlebnissen erzählen zu lassen und sie allmählich mit Entfernungen, Höhen, Längen oder Gewichtsunterschieden vertraut zu machen. Ausgehend von diesen Überlegungen entwickelte er ein denkwürdiges Experiment, das gängige Unterrichtskonzepte auf den Kopf stellte.
Letzte Woche gab es bei Radio Orange eine Sendung mit den Bildungssprechern von ÖVP, SPÖ, NEOS und den Grünen. Der Moderator Michael Karjalainen Dräger hatte eine Freilernermutter und mich eingeladen, den Politiker*innen Fragen zu stellen. Ihre Antworten verrieten, dass sie vom Thema Freilernen kaum etwas wissen, doch wenigstens sprach sich niemand öffentlich dagegen aus. Die Freilernermutter gab den anwesenden Bildungsverantwortlichen Informationsmaterial über informelle Lernwege und ich nützte die Gelegenheit, um ihnen ein Papier über ein erstaunliches pädagogisches Experiment in die Hand zu drücken. Würden dessen Ergebnisse ernst genommen, könnte das vielen Schülerinnen und Schülern das Leben enorm erleichtern – deshalb möchte ich es unbedingt verbreiten!
In jeder Familie, die ich kenne, gibt es Menschen mit Mathematiktraumata – vom Volksschulkind, das mit seinen Rechenaufgaben kämpft, bis zum Großvater, der seit vielen Jahrzehnten in nächtlichen Albträumen seine Mathematik-Matura wiederholen muss… Das Experiment von Benezet hat mir klar gemacht, woran das liegt:
Sie stehen als verantwortliche Bildungspolitiker*innen vor einer dramatischen Situation: Laut Bildungsbericht erfüllen 42% der Pflichtschulabgänger*innen nicht einmal die Mindestanforderungen im Hauptfach Mathematik. Geldmangel kann dafür nicht ausschlaggebend sein, denn Österreichs Bildungsausgaben liegen um 42% über dem EU-Durchschnitt. Zu den gut 100.000 €, die der Steuerzahler in 8 Pflichtschuljahren pro Schüler*in ausgibt, kommen noch die Ausgaben für private Nachhilfe hinzu, wo Mathematik mit Abstand der Spitzenreiter ist.
Das Problem ist nicht neu und leider auch nicht auf Österreich beschränkt. Trotz zahlreicher wissenschaftlicher Studien und Unterrichtsreformen hat es sich in den vergangenen Jahrzehnten weiter verschärft. Ich möchte Sie deshalb auf eine experimentelle Studie aus den 1930er Jahren aufmerksam machen, deren Autor das Problem des Mathematikunterrichts in einen größeren Zusammenhang stellte und so zu einer praktikablen Lösung fand:
In seinen Schriften (http://wol.ra.phy.cam.ac.uk/sanjoy/benezet/) erklärt der Pädagoge und Bildungsforscher Louis Paul Benezet (1878-1961) sein Konzept sehr anschaulich anhand konkreter Beispiele. Benezet war kein Theoretiker, sondern Pragmatiker und mitfühlender Mensch. Er sah tagtäglich die fatalen Folgen eines Unterrichts, der sich, wie wir es heute beschreiben würden, nur auf das Training der linken Gehirnhälfte konzentriert, und wollte das nicht länger hinnehmen. Als Superintendent suchte er Lehrer, die ihm halfen, seine Erkenntnisse experimentell zu beweisen. Das Ergebnis: Kinder, die bis zum Ende des 6. Schuljahres überhaupt keinen Mathematikunterricht erhielten, sondern stressfrei, also ohne Drill ihr Sprachgefühl, ihre Lesekompetenz und (anhand ungefährer Schätzungen) ihre natürliche Logik entwickeln konnten, waren ihren Altersgenossen in regulären Klassen in vieler Hinsicht überlegen. Was Beobachter am meisten erstaunte: Bei den Standard-Mathematiktests am Ende des 7. Schuljahres schnitten diese Kinder nach einem einzigen Jahr Mathematikunterricht deutlich BESSER ab als Gleichaltrige, die 7 Jahre lang konventionellen Mathematikunterricht “genossen” hatten!
Dieses Experiment, das an verschiedenen Schulen mit vielen Schüler*innen (großteils Einwandererkindern!) erfolgreich wiederholt wurde, BEWEIST die Richtigkeit von Benezets laut Wikipedia “sehr kontrovers diskutierter” Theorie, dass zu frühe Beschäftigung mit abstrakten Zahlen und Formeln das kindliche Gehirn verwirrt und seine angeborene Auffassungsgabe auf allen Gebieten (!) negativ beeinflusst. Nur Kinder, deren Denken und Ausdrucksfähigkeit sich frei entwickeln konnten, weil sie sich jahrelang aktiv und kreativ mit Themen ihrer Wahl auseinandersetzen durften, sind danach auch dem Umgang mit abstrakten Zahlen und Formeln gewachsen. Viele engagierte LehrerInnen werden gerne bereit sein, ein solches Potenzialentfaltungsprogramm zu implementieren!
Wenn ihr Kinder oder Enkelkinder habt, haltet euch bitte an die Einsichten von Benezet: Macht keine Rechenaufgaben mit ihnen, sondern erzählt ihnen Geschichten! Geht mit offenen Augen mit ihnen durch die Welt – erlaubt ihnen, dass sie unterwegs Vorgängen, die sie faszinieren, zuschauen solange sie wollen. Macht sie aufmerksam auf die verschiedenen Formen und Höhen von Häusern oder Bäumen, auf Vogelstimmen und die Farbenpracht der fallenden Blätter. Ermöglicht ihnen spielerische Experimente mit Erde, Luft, Wasser und Feuer. Versucht, ihre Fragen zu beantworten oder Menschen zu finden, von denen sie erfahren können, was sie wissen wollen…
Ich wünsche euch, dass ihr dabei den Zustand der Muße für Herz und Geist, der die Voraussetzung für persönliche Entfaltung ist, kennen und schätzen lernt!
Herzlich
Alexandra
P.S: Da sich Newsletter nicht gut weiterleiten lassen, hier ein Link, hinter welchem die Scholé News seit Längerem in Beitragsform bereitgestellt werden: http://gaia-energy.org/tag/schole/
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