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Scholé-Nachrichten Juli 2020

Schole-Titelbild

Am Ende des seltsamen Schuljahres 1920 habe ich einen offenen Brief gesendet.

Er ist adressiert an Bildungsobmann Nekula, den Nachfolger von Frau Wiesinger:

Sehr geehrter Herr Bildungsobmann Nekula,
Ich wende mich an Sie als Mensch, Beamter und Bildungsexperte mit der herzlichen Bitte um Hilfe und Unterstützung! Der unmittelbare Anlass für diesen offenen Brief sind einige exemplarische Rechtsfälle, die aufzeigen, dass eine juristische Neudefinition des Leitbegriffs KINDESWOHL überfällig ist:

  • Wiener Eltern, die sich in vorbildlicher Weise um ihre zwei selbstbestimmt lernenden Söhne kümmern, wie das zuständige Jugendamt und mehrere amtliche Gutachten den Gerichten bestätigten, wurde im Frühjahr 2020 nach jahrelangen Verhandlungen die Obsorge zur Gänze entzogen. Begründung: Obwohl es den Kindern gut gehe, lasse sich nicht ausschließen, dass sie in ihrem späteren Berufsleben Probleme haben könnten, weil ihnen Schulzeugnisse fehlen. Außerdem solle ausdrücklich ein Exempel statuiert werden, um ähnlich gesinnte Eltern zu entmutigen.
  • Ein anderes Wiener Ehepaar, von dessen 4 wohl behüteten Kindern nur ein Mädchen nicht zur Schule gehen will, muss eine Ersatzhaft antreten, da sich die Familie die Geldstrafen nicht leisten kann.
  • Weil die Bedürfnisse ihrer drei hoch sensiblen Kinder mit den Schulgesetzen nicht in Einklang zu bringen waren, wurde eine niederösterreichische Mutter wiederholt zu Geldstrafen verurteilt, die sie nicht mehr bezahlen kann. Da sie Alleinerzieherin ist, kann sie nicht ins Gefängnis gehen, also ließ das Gericht folgende Gegenstände aus dem Haushalt der sehr bescheiden lebenden Familie pfänden und zur Versteigerung ausschreiben: eine ausgeliehene Harfe, die Musikinstrumente der Kinder, einen Drucker, den alle ständig brauchen, und die beiden Nähmaschinen, mit denen die Mutter arbeitet. Das alles im Namen des KINDESWOHLS, wohl gemerkt!
  • Auch wer sich für die legale Form des häuslichen Unterrichts entscheidet, muss mit Problemen rechnen: Während den unfreiwilligen Corona-Homeschoolern viele Prüfungen erlassen wurden, haben die Behörden die Externistenprüfungen für freiwillige Homeschooler bzw. SchülerInnen alternativer Schulen ohne Öffentlichkeitsrecht heuer besonders streng gehandhabt – obwohl diese Kinder unter der Ausnahmesituation nicht weniger gelitten haben, denn auch sie bekamen Angst, durften keine Kurse besuchen, ihre Großeltern und Freunde nicht treffen, keinen Sport betreiben usw.! Einzelne Eltern erwägen deshalb sogar eine Klage.

Alle hier erwähnten Mütter und Väter sind ÜberzeugungstäterInnen. Als überdurchschnittlich bewusste und achtsame Eltern haben sie staunend und mit Freude beobachtet, wie gut ihre Kinder sich seelisch, sozial und intellektuell zu Hause oder an frei gewählten Lernorten entwickeln. Aus diesem Grund sind sie nicht bereit, physische oder psychische Gewalt anzuwenden, um die Kinder gegen deren Willen zum regelmäßigen Schulbesuch zu überreden oder zum Ablegen der vorgeschriebenen Jahresprüfungen zu zwingen.
Die Kinder- und JugendanwältInnen, die ich in diesem und ähnlichen Fällen um Beistand gebeten habe, zeigten zwar ein gewisses persönliches Verständnis, erklärten sich jedoch für unzuständig, da ihnen durch gesetzliche Vorgaben die Hände gebunden seien.

Wenn es so weit kommt, dass das Wohlergehen konkreter Kinder durch Gesetzesparagrafen, die zum Schutz des Kindeswohls erlassen wurden, beeinträchtigt wird, ist es meiner Meinung nach Zeit für einen Paradigmenwechsel!

Also wende ich mich an Sie als übergeordnete Instanz. Einzelfälle wie die oben kurz erwähnten werfen nämlich eine gesellschaftspolitische Frage von sehr großer Tragweite auf. Erinnern Sie sich noch an die Diskussion um Wehrdienstverweigerer in den 1970er Jahren? Angestoßen wurde sie durch einige mutige junge Männer, die für ihre pazifistische Überzeugung ins Gefängnis gingen. Das löste zunächst eine heftige, ideologisch geführte Debatte pro und contra Wehrdienstverweigerung aus, doch am Ende ging daraus ein neues ZIVILDIENSTGESETZ hervor, das einen nennenswerten gesellschaftspolitischen Fortschritt markiert. Noch dramatischer verlief der Meinungsbildungsprozess, der schlussendlich zur Entkriminalisierung der Homosexualität führte.

Was heute ansteht, ist ein ähnlich dramatischer gesellschaftspolitischer Fortschritt im Bildungsbereich: Das Kindeswohl darf nicht länger von der Absolvierung eines STANDARD-LEHRPLANS abhängig gemacht werden. Das ist menschenunwürdig und undemokratisch, denn jedes Kind bringt andere Voraussetzungen mit. Außerdem widerspricht es allen neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen und bereitet die SchülerInnen auf die Anforderungen ihres künftigen Berufslebens ganz sicher nicht bestmöglich vor. Unterricht nach Lehrplan unterdrückt sehr viele Potenziale, er erfordert den ständigen Einsatz von Manipulation, Druck und Zwang und nährt bei allen Beteiligten (Lehrenden, Lernenden, Behörden, Wissenschaftlern) Minderwertigkeits- und/oder Überwertigkeitsgefühle: die Angst, nicht zu genügen, im Wechsel mit dem Machtrausch, über andere bestimmen zu dürfen. (Wer lernen musste, nach oben zu buckeln, wird zum Ausgleich nach unten treten.)

Wodurch das Recht auf Bildung in seiner jetzigen Definition ersetzt werden soll? Durch DAS RECHT DES KINDES AUF INDIVIDUELLE POTENZIALENTFALTUNG. Dazu bedarf es keines Zwanges und keiner Manipulation, denn seine individuellen Anlagen und Talente entwickeln zu dürfen, bedeutet für JEDEN MENSCHEN höchste Lust und Sinnerfüllung. Junge Menschen DABEI respektvoll zu begleiten, ist eine extrem bereichernde Aufgabe und macht die ganze Welt zum Lernraum für lebenslanges Lernen miteinander und voneinander.

Über viele Jahrhunderte haben erst die Kirchen und später die Staaten einen verbindlichen Bildungskanon festgelegt. Pädagoginnen wurden dazu verpflichtet, die Inhalte, die das jeweilige Regime zur Erhaltung seiner Strukturen für notwendig erachtete, unter Einsatz von Zuckerbrot und Peitsche an die nächste Generation weiterzugeben. Diktatorische Regime wie Kommunismus oder Nationalsozialismus haben die natürlichen Elternrechte und den persönlichen Spielraum der Lehrenden durch Gesinnungsterror und eine rigorose Schulpflicht noch weiter eingeschränkt. Anders als Deutschland führte Österreich, wo eine solche Schulpflicht ab 1938 ebenfalls bestand,1945 zum Glück wieder die traditionelle Bildungspflicht ein und hat damit den häuslichen Unterricht legalisiert.

Im Bewusstsein der Bevölkerung hält sich interessanter Weise aber weiterhin die Idee der Schulpflicht. Bis zu dem im Frühjahr 2020 verordneten Homeschooling wegen Corona wussten die meisten Österreicher gar nicht, dass es eine Alternative zum Schulunterricht gibt, oder sie hielten Leute, deren Kinder nicht “normal” zur Schule gehen, für Rabeneltern und/oder gefährliche Sektierer. Verantwortlich dafür sind die Medien, wo das Thema Homeschooling fast ausschließlich im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen zur Sprache kommt.

Mit diesen vereinzelten Missbrauchsfällen, die niemand leugnen oder schönreden will, sehen sich alle Freunde des freien Lernens konfrontiert, sobald sie eine sinnvolle Reform der derzeitigen Bildungsgesetze anzuregen versuchen, wie dies kürzlich das Netzwerk der Freilerner mit dem Positionspapier “Alternativen zu den Jahresprüfungen – Überblick, Fakten und Lösungen zur Realisierung informeller Bildungswege” getan hat. Und obwohl die Medien fast täglich mit irgendwelchen Katastrophenmeldungen aus dem Schulwesen aufwarten können, werden sämtliche Mängel des herrschenden Systems reflexartig ausgeblendet, sobald jemand mögliche Alternativen vorschlägt. Den Verantwortlichen scheinen die gewohnten alten Klagen immer noch lieber zu sein als konstruktive neue Vorschläge, die eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Thema erfordern würden…

Diese Auseinandersetzung darf jedoch nicht weiter aufgeschoben werden! Das Verhältnis zwischen dem Aufwand und den Ergebnissen des Schulunterrichts bezeichnen kritische Fachleute zu Recht als alarmierend. Ein Schulkind kostete den österreichischen Steuerzahler laut offiziellem Bildungsbericht 2018 durchschnittlich 8.200 bis 12.700 € jährlich, fallweise noch viel mehr. Trotzdem erreichten 42% die Bildungsziele im Hauptfach Mathematik nicht, und mindestens ein Sechstel der PflichtschülerInnen konnte nach 8 oder 9 Jahren Schule nicht einmal Sinn erfassend lesen. Noch schwerer wiegt das Ergebnis einer Studie der MedUni Wien, die besagt, dass fast ein Viertel der österreichischen Kinder und Jugendlichen seelisch mittel bis schwer belastet sind. Auch den Lehrenden geht es in diesem System nicht gut: die Burnout-Rate unter Lehrern ist überdurchschnittlich hoch, und immer weniger engagierte junge Menschen entscheiden sich für den Lehrberuf.

Derlei unbestreitbare Fakten und Daten bleiben gewöhnlich auch unberücksichtigt, wenn es um die Leistungsbeurteilung freiwilliger Homeschooler geht: Von diesen Kindern wird erwartet, dass sie schon mit 7 oder 8 Jahren Vieles von dem beherrschen, was ein hoher Prozentsatz der Schulabgänger trotz aller Kosten und Mühen mit 15 Jahren noch immer nicht erlernt hat. Was Homeschooler außerhalb des Lehrplans lernen und leisten, zählt überhaupt nicht. Fallen Kinder im häuslichen Unterricht bei der Externistenprüfung durch, müssen sie im nächsten Jahr zur Schule gehen. Die Möglichkeit, die Externistenprüfung oder das Schuljahr zu wiederholen, ist für sie im österreichischen Gesetz genauso wenig vorgesehen wie die Möglichkeit zu überspringen für intellektuell besonders Begabte unter ihnen. Wie lässt sich diese Ungleichbehandlung rechtfertigen?

So manche Homeschooler-Eltern ergreifen nach traumatisierenden Prüfungserfahrungen Partei für ihre Kinder und hören auf, sie zum Bulimie-Lernen, also dem Büffeln von Prüfungsstoff zu zwingen. Dadurch geraten sie allerdings mit dem Gesetz in Konflikt. Also müssen sie ab nun mit hohen Geldstrafen rechnen bzw. im schlimmsten Fall – wie bei dem oben erwähnten Wiener Elternpaar – sogar mit dem Entzug der Obsorge. Wehrdienstverweigerern und Homosexuellen sind vor den entsprechenden Gesetzreformen wahrscheinlich ähnlich himmelschreiende Ungerechtigkeiten widerfahren, doch im Bereich Bildung sind diese Ungerechtigkeiten nur die Spitze des Eisbergs!

Hier geht es nämlich nicht um eine Minderheit, sondern in Wahrheit um JEDES KIND! Das Recht auf Potenzialentfaltung muss ALLEN Kindern zugestanden werden, denn sobald freiwilliges Lernen zur Regel wird, lösen sich die scheinbar so unüberbrückbaren Unterschiede zwischen SchülerInnen, Homeschoolern und FeilernerInnen ganz von selbst auf, wie bereits existierende Positivbeispiele im Inland wie im Ausland zeigen.

Dass die Dressur junger Menschen mittels der standardisierten Bildungsinhalte von gestern und vorgestern schon seit langem nicht mehr zeitgemäß ist, darüber sind sich die Fachleute inzwischen ja einig. Niemand kann voraussagen, wie die Zukunft aussehen wird, deshalb sind Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein, Respekt vor anderen, Mut, Eigeninitiative, Kooperationsfähigkeit, Kreativität und Flexibilität im 21. Jahrhundert weitaus wichtiger geworden als Anpassung, Gehorsam, Rechnen, Rechtschreibung und ähnliche, früher dringend benötigte Fertigkeiten, die längst von Computern übernommen wurden, im Schulunterricht aber nach wie vor eine zentrale Rolle spielen.

Freiwillig und selbstbestimmt lernende Kinder entwickeln, sofern sie liebevoll und kompetent begleitet werden, genau diese “neuen” Fähigkeiten, INDEM sie ihre angeborenen individuellen Potenziale entfalten! Mit der dringenden Bitte, informelle Bildungswege in Österreich zu erforschen, sind die Betroffenen bisher leider abgeblitzt. In den angelsächsischen Ländern, wo außerschulische Bildungsformen legal sind und sich steigender Beliebtheit erfreuen (allein in den USA bilden sich etwa 2,3 Millionen Kinder außerhalb von Bildungsinstitutionen), wurden hingegen bereits zahlreiche wissenschaftliche Studien über das Sozialverhalten und die Berufsaussichten unbeschulter Kinder in Auftrag gegeben. Einige dieser Studien haben österreichische Eltern, die ihre Kinder “widerrechtlich” informell und selbstbestimmt lernen lassen, den Gerichten vorgelegt, denn deren Urteilsbegründung wird durch jede einzelne Studie klar widerlegt:

Sowohl in Bezug auf ihr Sozialverhalten als auch in Bezug auf Studienerfolge, Berufsbefähigung und Berufszufriedenheit schneiden Menschen, die sich als Kinder und Jugendliche selbstbestimmt bilden durften, im Schnitt merklich BESSER ab als vergleichbare SchulabsolventInnen!

Letztlich lassen diese Studienergebnisse nur den Schluss zu, dass Schulbehörden, PädagogInnen und ExpertInnen aus den Erfahrungen freiwillig und selbstbestimmt lernender Kinder über POTENZIALENTFALTUNG sehr viel lernen könnten! Darum dürfen Eltern, die es ihren Kindern gegen alle Widerstände ermöglichen, sich freiwillig und selbstbestimmt zu bilden, nicht länger wie VerbrecherInnen behandelt werden. Sie haben es vielmehr verdient, endlich als Pionierinnen und Pioniere einer zukunftsweisenden neuen POTENZIALENTFALTUNGSKULTUR angehört, geehrt und unterstützt zu werden!

Mit Dank und hoffnungsvollen Grüßen
Alexandra Terzic-Auer

Wien, den 8. Juli 2020

Ich wünsche euch und euren Kindern einen Sommer der lustvollen Potenzialentfaltung!
herzlichst, Alexandra

P.S: Da sich Newsletter nicht gut weiterleiten lassen, hier ein Link, hinter welchem die Scholé News seit Längerem in Beitragsform bereitgestellt werden: http://gaia-energy.org/tag/schole/

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