Zum 30. Jahrestag der Kinderrechte am 20.11.2019 haben die Freilerner
an alle Schulbehörden sowie die Kinder- und Jugendanwaltschaften das Konzept ALTERNATIVEN ZU DEN JAHRESPRÜFUNGEN versandt. Auf www.freilerner.at könnt ihr mit verfolgen, wie sich die Aktion entwickelt und euch vielleicht sogar in die Liste der Unterstützer eintragen. Auf jeden Fall sind wir nicht mehr allein: Unter dem Titel VERBILDET BILDUNG? Ein Plädoyer für Persönlichkeitsbildung als fundamentales Leitprinzip hat der Leiter des Zentrums für Persönlichkeitsbildung und Begabungsförderung an der Pädagogischen Hochschule in Linz einen brisanten Aufsatz veröffentlicht, der die Verantwortlichen im Bildungsministerium endlich aufrütteln müsste:
Gerade weil die Schule unausweichlich Menschen bildet, ist das bestehende Schul- und Bildungssystem grundsätzlich zu hinterfragen.
„Schafft die Schule ab“, fordert Oliver Hauschke auf dem Cover seines neuen Buches vehement und schiebt im Untertitel als Begründung nach, dass die Schule „unsere Kinder nicht bildet“ und deshalb „radikal geändert werden muss“. Ich möchte dem widersprechen und die These vertreten, dass zwar die Schule sehr wohl radikal geändert werden muss (resp. müsste), aber gerade weil sie unsere Kinder bildet – bzw. eben verbildet. Zur Begründung dieser These setze ich bei einem bekannten Zitat Paul Watzlawicks an: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Und adaptiere dieses Zitat sinngemäß für die Schule: „Man kann nicht nicht erziehen“ – oder etwas vorsichtiger formuliert: „Man kann nicht nicht in Beziehung treten“. Lehrpersonen, die für sich in Anspruch nehmen, ausschließlich für die Vermittlung von Fachwissen zuständig zu sein, während Erziehung einzig und allein Sache der Eltern / des familiären Umfelds sei, täuschen sich dementsprechend. Denn „vermitteln“ ist ein relationaler Begriff, der auch im schulischen Kontext auf eine soziale Beziehung zwischen Menschen rekurriert. Auch die „reinen Wissensvermittler/innen“ vermitteln demnach Werte, und seien es die „Werte“ der sozialen Distanz und Gleichgültigkeit.
Wenn aber Schule nicht nicht erziehen – oder sagen wir besser: bilden – kann, wenn Menschenbildung in der Schule unweigerlich stattfindet, dann stellt sich unmittelbar die Frage, von welchem Menschenbild man dabei ausgeht bzw. worauf schulische Erziehung/Bildung abzielen, was ihr pädagogisches „telos“ sein sollte. Zur Beantwortung dieser Frage beziehe ich mich – exemplarisch! – auf den aktuellen NMS-Lehrplan. Hier heißt es u. a. (es wären zahllose weitere Stellen zitierbar):
Der Unterricht hat aktiv zu einer den Menschenrechten verpflichteten Demokratie beizutragen. Urteils- und Kritikfähigkeit sowie Entscheidungs- und Handlungskompetenzen sind zu fördern, sie sind für die Stabilität pluralistischer und demokratischer Gesellschaften entscheidend. Den Schülerinnen und Schülern ist in einer zunehmend internationalen Gesellschaft jene Weltoffenheit zu vermitteln, die vom Verständnis für die existenziellen Probleme der Menschheit und von Mitverantwortung getragen ist. Dabei sind Humanität, Solidarität, Toleranz, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Umweltbewusstsein handlungsleitende Werte.“ (BGBl. II Nr. 230/2018, S. 4)
Wie sieht demgegenüber die Realität der Schule aus? Bestätigt diese nicht eher die harsche Schul- und Systemkritik spätestens seit Leo Tolstoi über Ellen Key, Janusz Korczak, Virginia Woolf und Ivan Illich bis zu heutigen Autoren wie Richard D. Precht, Ulrich Klemm, Ulrike Kegler, Ken Robinson, Bertrand Stern, Oliver Hauschke und den diversen Freilerner-communities, die unisono geltend machen, dass Schule ihrem ureigensten Auftrag aus systemischen Gründen gar nicht gerecht werden kann? Behandelt die „Regelschule“ nicht nach wie vor („in aller Regel“) Kinder faktisch gerade nicht entsprechend ihren individuellen Bedürfnissen, sondern eher wie „Stoff-Stopfgänse“, die ungefragt Zwangs-Stoff in sich hineinstopfen müssen, um ihn gegen den Tauschwert „Note“ bei der nächsten Schularbeit wieder rauszuwürgen, um ihn dann getrost wieder vergessen zu können? Und bloß keine Fehler machen, weil Fehler der Maßstab der Beurteilung sind, der Maßstab dafür, ob man ein „guter Schüler / eine gute Schülerin“ ist oder ein Loser. Provokant gefragt: Was genau versäumen die F4F-kids bei ihren Freitagsdemonstrationen? Ist es nicht bloß der Stoff, den sie nach der nächsten Schularbeit sowieso wieder vergessen hätten?
Das alles hat nichts mit undifferenziertem Lehrer/innen-bashing zu tun! Denn Lehrer/innen sind ihrerseits seit jeher innerhalb dieser systemischen Vorgaben vor die unmögliche Aufgabe gestellt, „eine Wandergruppe mit Spitzensportlern und Behinderten bei Nebel durch unwegsames Gelände in nordsüdlicher Richtung zu führen, und zwar so, dass alle bei bester Laune und möglichst gleichzeitig an drei verschiedenen Zielorten ankommen.“ Das ist nicht leistbar!
Ich greife noch einen anderen Aspekt auf, den der demokratischen Bildung, verstanden als Bildung von mündigen, weltoffenen, politisch kompetenten Bürgerinnen und Bürgern einer vitalen Demokratie als dringendes, geradezu existenzielles Desiderat einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Geht das mit der Stoff-Stopfgänse-Pädagogik? Ist Schule als strukturell un- bzw. antidemokratische Einrichtung der geeignete Ort, demokratisches Bewusstsein, demokratische Haltung in dem Sinne auszubilden, wie sie im Lehrplan definiert ist? An dieser Stelle verweise ich auf Herbert Renz-Polsters aktuelles Buch, in dem ein altbekannter Grundgedanke gründlich und differenziert aufbereitet wird: „Erziehung prägt Gesinnung“. Welche Gesinnung wird aber in der „Regelschule“ geprägt: die angepasster, passiver Weisungsempfänger/innen, lustloser Pflichterfüller/innen – und natürlich die braver, willfähriger Konsumentinnen und Konsumenten. Aber das steht eindeutig im Widerspruch zu einem gehaltvollen demokratisch-kritischen Selbstverständnis.
Gemessen an den hehren allgemeinen Zielen des Lehrplans (resp. der Lehrpläne!) scheitert also das System Schule auf weiter Strecke, es steht sich gewissermaßen selbst im Weg, leidet an strukturellen Selbstwidersprüchen (unter denen Lehrer/innen gleichermaßen zu leiden haben wie Schüler/innen). Und genau deswegen ist dieses System radikal zu ändern – nicht weil es „nicht bildet“, sondern ganz im Gegenteil, weil es verbildet.
In einem Bildungssystem, in dem die in den Lehrplänen definierten allgemeinen Bildungsziele wirklich erreicht werden sollten, müsste daher (entsprechende) Persönlichkeitsbildung der Aspekt, die Orientierungskategorie, das fundamentale Leitprinzip sein – ob in den Schulen oder in den tertiären Lehrer/innenbildungseinrichtungen.
Um aber dies zu verwirklichen – hier stimme ich in den Chor der alten und neuen Schulkritiker/innen ein –, müsste Schule in der Tat radikal, strukturell verändert werden – oder eben abgeschafft.
Thomas Mohrs ist Leiter des Zentrums für Persönlichkeitsbildung und Begabungsförderung an der PH OÖ
Literatur:
- Hauschke, O. (2019), “Schafft die Schule ab”, Warum unser Schulsystem unsere Kinder nicht bildet und radikal verändert werden muss. München (mvg Verlag).
- Renz-Polster, H. (2019). “Erziehung prägt Gesinnung”, Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte – und wie wir ihn aufhalten können. München (Kösel).
Herzlichsten Dank, lieber Prof. Thomas Mohrs, im Namen der vielen Lehrenden und Lernenden, die am derzeitigen Schulsystem leiden!
Mit frohen Wintergrüßen
Alexandra
P.S: Da sich Newsletter nicht gut weiterleiten lassen, hier ein Link, hinter welchem die Scholé News seit Längerem in Beitragsform bereitgestellt werden: http://gaia-energy.org/tag/schole/
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