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Liebe Scholé-Freunde,
Die Kommunikation mit den Verantwortlichen gestaltet sich deshalb so schwierig, weil sie eine völlig andere Sprache sprechen: Wir reden von ganz konkreten Rechten und Bedürfnissen einzelner Kinder, die Gegenseite antwortet in einem verallgemeinernden juristischen Kauderwelsch, das letztendlich nur dazu dient, den Herrschaftsanspruch der staatlichen Institutionen abzusichern. Gerichte und Jugendämter berufen sich zwar gerne auf den abstrakten Rechtsbegriff Kindeswohl, doch wie es dem einzelnen Kind innerhalb oder außerhalb des Schulsystems wirklich geht, interessierte sie bisher überhaupt nicht.
Doch diese Mauer beginnt zu bröckeln. Es gibt bereits einzelne Urteile, die der Gleichsetzung von Schulbesuch und Kindeswohl eine Absage erteilen. Das ist vor allem den wenigen Pionieren zu verdanken, die ungeachtet aller Drohungen und Strafen ihren Kindern ein Aufwachsen in Freiheit, also ohne Prüfungen über den Schulstoff, ermöglicht haben. Aus diesen Kindern sind inzwischen sehr selbstständige junge Männer und Frauen geworden, und sogar die Gerichte müssen anerkennen, dass die Hoffnungen ihrer Eltern sich wider Erwarten wirklich erfüllt haben: Junge Menschen, die niemals aus dem echten Leben herausgerissen wurden, sind tatsächlich zufriedener und lebenstüchtiger als viele der Schulabsolventen, die den größten Teil ihrer Kindheit in geschlossenen Bildungsanstalten verbringen mussten.
Frei lernen, frei leben
Weil sie von Anfang an gesehen und angenommen wurden, wie sie sind, mussten diese jungen Menschen niemals um Aufmerksamkeit buhlen oder in virtuelle Welten flüchten. Weil sie weder verglichen noch bewertet wurden, fällt es ihnen heute leicht, mit anderen Menschen – egal ob diese gleichaltrig, jünger oder älter sind – auf Augenhöhe zu kommunizieren. Sie wissen, wer sie sind, kennen ihre Stärken und ihre Grenzen. Sie interessieren sich für viele Dinge und sind gewöhnt, sich selbstständig weiterzubilden. Dank diesen Eigenschaften sind sie als Mitarbeiter äußerst begehrt und finden auch ohne Zeugnisse sehr rasch passende Berufe. Das Schönste ist aber, dass sie niemals aufhören werden, mit ungebrochener Freude. weiter zu lernen, denn Lernfreude zählt zu den natürlichen Wesensmerkmalen jedes Menschen, dem man das Lernen nicht durch Druck, Zwang und vorgegebene Lerninhalte verdorben hat.
Eigentlich dürfte man für schulisches und freies Lernen gar nicht denselben Begriff verwenden, so verschieden sind sie. Wir Erwachsenen haben alle unzählige Stunden Unterricht “genossen”. Gemerkt haben wir uns im Schnitt allerdings nur ein paar Prozent des Schulstoffs, der mit so viel Aufwand in unsere Köpfe hinein gehämmert wurde. Unverlierbar in uns gespeichert ist hingegen das Erfahrungswissen, das wir uns, großteils außerhalb des Klassenraums, aneignen durften. Dinge, die wir freiwillig, mit Liebe und Begeisterung getan haben. Und für die wir immer zu wenig Zeit hatten, weil wir in die Schule gehen, Aufgaben machen, uns auf Tests und Schularbeiten vorbereiten mussten…
Wie es ist, rund ums Jahr Ferien zu haben und sich jeden Tag von seinen persönlichen Interessen leiten zu lassen, können wir Schulabsolventen uns, glaube ich, gar nicht recht vorstellen. Sogar frühe Kindheitserinnerungen an begeisternde Entdeckungen sind bei den meisten von uns tief verschüttet, begraben unter einer dicken Schicht von angelerntem Zeug. In dem Zusammenhang erinnere ich mich an ein Erlebnis bei einem herbstlichen Freilernertreffen, das mich besonders berührt hat, wahrscheinlich weil es vage Erinnerungen an eigene frühe Erlebnisse in mir wiedererweckt hat.
Was Hänschen schon lernte
Es war ein kalter Morgen, auf den Grashalmen glitzerte schon Rauhreif. Im Hof des ehemaligen Bauernhauses, das uns als Herberge diente, stand ein Wassertrog, ein ausgehöhlter Baumstamm, in den aus einem Eisenrohr ein dünner Wasserstrahl lief. Ich überquerte gerade den Hof und sah von weitem, wie die Haustür aufging. Heraus trippelte ein ganz kleines Mädchen, die Tochter einer schon erwachsenen Freilernerin, die, wie ich wusste, an diesem Tag ihren 1. Geburtstag feierte. Die Mutter sah ihr nach, nickte mir zu, ließ die Haustür offen stehen und zog sich zurück.
Das kleine Mädchen steuerte zielsicher auf den Wassertrog zu, der ihr bis zur Brust hinauf reichte. Sie tauchte die Händchen ein, stand ganz still und fühlte das kühle Nass. Dann schlug sie auf die Wasseroberfläche, dass es spritzte, ließ jauchzend das Wasser durch die Finger rinnen, fischte ein schwimmendes Blatt heraus, versuchte vergeblich, mit ihren kurzen Ärmchen den Wasserstrahl zu erreichen, und entdeckte dann einen Fetzen, der am Rand des Brunnentrogs lag. Vorsichtig ließ sie ihn ins Wasser gleiten und beobachtete, wie er beim Versinken immer schwerer wurde. Mit heiligem Ernst zog sie den vollgesogenen Fetzen langsam und bedächtig durch den Trog, hob ihn an, ließ ihn wieder sinken, berauschte sich an den glucksenden Geräuschen, die dabei entstanden, den Furchen und Linien am Wasser… und Gott allein weiß, was sie sonst noch alles wahrgenommen haben mag.
Ich stand in einiger Entfernung und beobachtete das Kind, das in sein Tun völlig versunken war, mit wachsender Faszination. Mir schien, dass die Kleine in den zeitlosen 10 Minuten, die ihr wundersames Experiment dauerte, wesentlich mehr über die Eigenschaften des Wassers, die Schwerkraft und andere natürliche Phänomene lernte, als man ihr in vielen Stunden Physikunterricht hätte beibringen können. Niemand holte das Kind zurück, niemand sagte: “Gib acht, dass du nicht nass wirst, es ist kalt! Du wirst dich verkühlen!” Die Kleine durfte weiter spielen, bis sie, von ihren Erfahrungen vollkommen gesättigt, ins Haus zurücklief. Die Mutter nahm sie lächelnd in die Arme, trug sie die steile Treppe hinauf und zog ihr kommentarlos trockene Kleider an.
Als sie selbst noch ein Kind war, hatten ihre Eltern ihr ebenfalls so großes Vertrauen entgegengebracht. Deshalb fiel es der jungen Mutter leicht, ihre erst 12 Monate alte Tochter ohne Sorge aufregende neue Erfahrungen machen zu lassen. Außerdem konnte sie sich darauf verlassen, dass niemand wegen eines unbeaufsichtigten Kleinkindes die Polizei verständigen würde. Das kleine Mädchen war hier ja von Freilernerfamilien umgeben – jeder hätte ihr sofort geholfen, wenn nötig, aber keiner hätte sie gestört oder sich ungefragt in ihr Spiel eingemischt. Und verkühlt hat sich die Kleine auch nicht, sie hat selbst genau gespürt, wann es genug war.
Eine Frage der Geisteshaltung
Diese kleine Alltagsszene illustriert, finde ich, sehr gut, worin sich die heute übliche Einstellung zur Erziehung von der Geisteshaltung unterscheidet, die für ein selbstbestimmtes Leben notwendig ist. Betrachtet man einen jungen Menschen von Anfang an als hohes Geistwesen in einem kleinen Körper, so verbietet die Ehrfurcht vor seiner menschlichen Würde, dass man ihn ohne Not stört oder bevormundet, unter dem Vorwand, ihn beschützen und sozialisieren zu müssen. Die jungen Menschen, die sich nach ihrem eigenen inneren Lernplan entfalten dürfen, strahlen deshalb Ruhe und Selbstbewusstsein aus. Ihre Charaktere sind so unterschiedlich wie ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber um keinen von ihnen muss man sich Sorgen machen.
Natürlich sehen sich auch selbstbestimmt lebende Menschen vor große Herausforderungen gestellt, natürlich haben auch sie zwischenmenschliche, finanzielle oder gesundheitliche Probleme. Anders als Normalbürger, die sich ihrer spirituellen Allverbundenheit noch nicht bewusst sind, rufen sie jedoch nicht ständig nach staatlicher oder institutioneller Unterstützung. Sie haben sich abgewöhnt, auf Vater Staat zu vertrauen, und gelernt, sich selbst, einander und dem Leben zu vertrauen. Darum aktivieren sie lieber ihre eigenen seelischen Ressourcen, entscheiden sich für alternative Heilmethoden oder bitten persönliche Freunde um Hilfe. Der Druck von außen zerbricht sie nicht, sondern schweißt sie zusammen.
Wege in die Selbstermächtigung
Jede der Freilerner-Familien, denen ich begegnet bin, zeigte mir andere Wege in die Selbstermächtigung. Dafür bin ich ihnen unendlich dankbar. Sie haben mich darin bestärkt, zu meiner eigenen Natur zurückzufinden, meiner Intuition wieder zu vertrauen und offen zu sein für Inspirationen. Ich lasse mich durch komplizierte intellektuelle Argumente heute nicht mehr verwirren und von meiner eigenen Wahrheit abbringen. Der kinesiologische Test, mit dem ich arbeite, bestätigt mir außerdem täglich, dass fast alle seelischen und körperlichen Probleme auf frühe Traumatisierungen in Kindergarten, Schule und Elternhaus zurückzuführen sind. Deren gemeinsame Wurzel sind Erziehungsmethoden, die darauf ausgerichtet sind, dass ein Mensch von Anfang an fremde Ziele, Erwartungen, Wünsche oder Befehle zu erfüllen hat.
Unser eigenes Höheres Selbst gleicht einer großherzigen Freilerner-Mutter, die uns stets im Auge behält, aber nur in Notfällen eingreift. Liebevoll lädt es uns ein, bedingungslos zu uns selbst zu stehen und uns furchtlos von Liebe und Begeisterung leiten zu lassen, auch wenn es im Außen gerade drunter und drüber geht. Sind wir uns seiner immerwährenden Präsenz bewusst, werden wir uns weder durch Drohungen noch durch Verführungen von unserem individuellen Weg abbringen lassen. Wir werden vielmehr entdecken, dass in jedem von uns ein frohgemuter Abenteurer steckt, dem es Spass macht, die Herausforderungen des Lebens anzunehmen.
Frohgemute Herbstgrüße
Alexandra
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