Es sind schon viele interessante und wichtige Arbeiten über Beschämung in Schulen veröffentlicht worden.
Der strukturelle Aspekt wurde dabei jedoch meist übersehen oder zumindest unterschätzt, weil er für Menschen, die Schule und Studium selbst durchlaufen haben, so selbstverständlich ist, dass sie ihn gewöhnlich gar nicht wahrnehmen.
Offenen Formen der Beschämung wie Verspotten, Mobbing und Ausgrenzen liegt in unserem Schulsystem eine versteckte Form der Beschämung zugrunde, die ich als strukturelle Beschämung bezeichne und – das ist mir sehr wichtig! – niemandem persönlich zur Last lege. Da es sich um ein Strukturmerkmal handelt, sind vielmehr alle Mitglieder des Systems – SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen – Leidtragende dieser Beschämung.
Wer sie als Kind erfahren musste, wird sie meist lebenslang nicht mehr los, denn unbewusst hat er sie seit damals verinnerlicht. Eine innere Stimme flüstert ihm/ihr zu: „So wie du bist, genügst du nicht! Um dir Liebe und Anerkennung zu verdienen, musst du dich anstrengen und bemühen, den Erwartungen anderer zu entsprechen.“ Besonders dann, wenn es dabei um unveränderliche Wesensmerkmale geht (beispielsweise Herkunft, Geschlecht, Körperbau, Veranlagung), ist das dadurch ausgelöste Gefühl der Scham für die Betroffenen kaum zu ertragen.
Also können sie es zunächst nur verdrängen, aber früher oder später werden die verdrängten Schamgefühle sich als die eigentliche Ursache zahlreicher Formen der Aggression (von Mobbing bis zum Extremfall Mord) oder der Autoaggression (von der Sucht bis zum Extremfall Selbstmord) erweisen. Das Problem der strukturellen Beschämung ist also von großer Tragweite.
Vier unbewusste Glaubenssätze
Versuchen Sie sich an Ihre eigene Kindheit zurückzuerinnern oder sich in die Lage eines sensiblen Schulanfängers hineinzuversetzen (ich spreche hier nicht von besonders dramatischen Schicksalen, sondern von ganz normalen Durchschnittsfällen, wie jeder sie kennt). Erster Schultag: In mehr oder weniger deutlichen Worten erfährt das Kind, dass es ab nun regelmäßig in eine „Schule“ genannte Anstalt gehen muss, damit „etwas“ aus ihm wird. Auf diese Weise bekommt es den ersten unbewussten Glaubenssatz eingepflanzt: So wie ich bin, genüge ich nicht.
Anstatt weiterhin auf seine Weise die Welt erkunden zu dürfen und dabei spielerisch seine Fähigkeiten zu entfalten, wird das Kind nun auf eine bestimmte „Bildungsschiene“ gesetzt, auf der es sich in vorgegebener Weise voranzubewegen hat. Ein amtlich festgelegter Lehrplan bestimmt, was sehr wichtig ist (Hauptfächer), was weniger wichtig ist (Nebenfächer) und was unwichtig ist und deshalb gar nicht auf dem Lehrplan steht. So wird der zweite beschämende Glaubenssatz grundgelegt: Andere wissen besser als ich, was gut und wichtig für mich ist.
In der Klasse sitzt das Kind zwischen Gleichaltrigen, mit denen es ständig verglichen wird oder sich selbst vergleicht. Aus dem in einer solchen Schulklasse unausweichlichen Konkurrenzdruck ergibt sich ganz von selbst der dritte Glaubenssatz: Das Leben ist ein (Wett-)kampf, entweder ich gehöre zu den Siegern, oder ich bin ein Verlierer.
Dieser Vergleich mit anderen ist die Grundlage der Bewertung: Durch Noten, verbale Beurteilung oder auch absichtslose Bemerkungen von LehrerInnen und MitschülerInnen erfährt das Kind, dass es besser oder schlechter ist als andere. Gesamt gesehen ergibt sich über die Zeugnisse eine Normalverteilung von sehr gut bis nicht genügend in Gestalt der berühmten Gauß’schen Glockenkurve. Offiziell geht es jedoch um Chancengleichheit, deshalb wird dem Kind eingeredet, es hänge von seiner persönlichen Anstrengung ab, wie weit es auf dieser Kurve „hinauf“ komme. So entsteht der vierte Glaubenssatz: Ich bin selbst schuld, wenn ich unten bleibe. Oder, anders herum gesehen: Weil ich besser bin als andere, steht mir besondere Anerkennung zu.
Die Klassenbeste und der Schulversager
Die tatsächlichen Erfolgsfaktoren – Herkunft, familiäre Situation, angeborene Talente, Gesundheitszustand, seelische Verfassung, Anpassungswilligkeit, Status unter den MitschülerInnen usw. – bleiben weitgehend unberücksichtigt oder jedenfalls unerwähnt. Das Schulkind lernt dadurch von klein auf, sich für seinen Erfolg oder sein Scheitern in einem Ausmaß verantwortlich zu fühlen, das nicht der Realität entspricht:
- Die gute Schülerin aus geordneten Familienverhältnissen, gesund, talentiert, anpassungswillig und privat vielfach gefördert, ist stolz darauf, Klassenbeste zu sein. Da sie für ihre Leistungen gelobt und belohnt wird, hält sie diese irrigerweise für ihr persönliches Verdienst.
- Der schlechte Schüler aus schwierigen familiären Verhältnissen, vielleicht sogar ein Flüchtling, mangelhaft ernährt, oft unausgeschlafen, von den MitschülerInnen gehänselt, weil er nicht nach der neuesten Mode gekleidet und ausgerüstet ist, aggressiv, schon weil niemand seinen Bewegungsdrang angemessen berücksichtigt, usw. wird in der Schule gescholten und zu Hause bestraft. Seine Eltern meinen es nicht böse, es treibt sie die Angst vor Schande, sozialem Abstieg, verpfuschter Zukunft ihres Kindes. Und der Sohn fühlt sich dadurch doppelt schuldig, wenn er schlechte Noten bekommt oder durchfällt.
Diese Ungerechtigkeit wird sich im späteren Leben mit großer Wahrscheinlichkeit 1:1 fortsetzen. Die Klassenbeste wird erfolgreich studieren, dank der Mithilfe ihrer Familie eine geräumige Wohnung und einen guten Arbeitsplatz bekommen und ihr hohes Einkommen für selbstverständlich gerechtfertigt halten.
Der Schulversager kann von Glück reden, wenn er nicht auf die schiefe Bahn gerät, sondern wenigstens ab und zu einen schlecht bezahlten Job ergattert und zwischendurch von der Sozialhilfe über Wasser gehalten wird. Er fühlt sich als Versager und muss sich als Sozialschmarotzer beschimpfen lassen. Sein dumpfer Groll über die fortwährende Beschämung wird sich früher oder später in Aggressivität und/oder Selbstzerstörung (Esssucht, Spielsucht, Alkohol, Drogen usw.) entladen.
System mit mechanischer Präzision
Das heimliche Curriculum der Schule, wie der Philosoph Ivan Illich es nennt, sorgt in den meisten Fällen allerdings dafür, dass weder die Streberin noch der Versager das System hinterfragen, das ihnen mit gnadenloser mechanischer Präzision ihren Platz auf der sozialen Stufenleiter zugewiesen hat. Die Gewinnerin hat dazu wenig Veranlassung und auch gar keine Zeit. Sie ist vollauf damit beschäftigt, ihren Status abzusichern.
Der Verlierer wäre gar nicht in der Lage, derart komplexe Zusammenhänge zu durchschauen. Er hält sich deshalb gerne an populistische Verführer, die ihm das Denken abnehmen und ihm einfache, notfalls gewaltsame Lösungen versprechen. Den natürlichen Drang, eigene Fragen zu stellen, aus eigenem Antrieb den Dingen auf den Grund zu gehen und über alternative Lösungsmöglichkeiten nachzudenken, hat man sowohl den Gewinnern als auch den Verlierern bereits
in jungen Jahren abgewöhnt: Sie haben gelernt, dass Fragen von Autoritätspersonen gestellt werden und ihre Aufgabe darin besteht, darauf die „richtigen Antworten“ zu geben, um im
Leben weiterzukommen.
Viele Lehrpersonen, SchuldirektorInnen, InspektorInnen leiden natürlich selbst oft darunter, nicht das tun zu können, was ihre Intuition oder ihr pädagogisches Gefühl ihnen raten würden. Immer wieder müssen sie ihre menschlichen Bedürfnisse bürokratischen Reglementierungen unterordnen und fühlen sich „von oben“ unter Druck gesetzt. Ein Druck, den sie nach unten weitergeben, oder an dem sie zerbrechen.